28. Januar 2018
3 Stunden ca. 12 km von Wusterwitz nach Plaue und Kirchmöser
Von Wusterwitz nach Plaue
Wieder einmal ungeheizt im Beton von „Deutsche Wohnen“. Flucht zur DB, die hat Signalstörung: kein Halt hier und da und der „Hex“ Richtung Harz fällt aus. Ich lande in Wusterwitz – vielleicht eine gute Gegend für Winterpilze. Die Ausbeute bleibt später bei einigen angeblich kalbfleischähnlich schmeckenden Austernseitlingen, die so viel undefinierbaren Streuseldreck in der Huthaut haben, dass es einem gedopten Kalb gleich kommen dürfte.
Ich marschiere Richtung Woltersdorf (nicht verwechseln mit der Woltersdorfer Schleuse bei Erkner) und Quitzows Burg Plaue*, die zeitgleich mit der Friesack-Feste fiel und verfiel. Als Wanderin zu früh am Morgen begegnen mir gleich einige „ganze Kerle“ mit Spürhund. Ein Forstauto sammelt sie (wahrscheinlich samt blutigem Opfer) ein. Ich lege ausreichend zu, um nicht konfrontiert zu werden.
Naturerlebnis gibt es abgesehen vom Wasser nicht – von dem wird man sogar jenseits aller Markierungen verlaufssicher gelenkt: zuerst über den Elbe-Havel-Kanal, ein bissel Wendsee, dann über die Schleusenbrücke vom Woltersdorfer Altkanal. Vor mir steht unverkennbar Silver in blauer Uniform, der Steuermann aus der „Schatzinsel“. Inwieweit die allgemeine Belesenheit unter- oder überschätzt wurde, ist fraglich: Silver steckt bis zum Holzknie in der Erde – halbherzig (besser: halbbeinig) zum Havelschiffer geschrumpft. Hab keinen Bock auf touristische Erlebniswelten, nicht mal als Foto. Ich ahne noch nicht – das soll sich bald ändern…
Jetzt die Straße geradeaus und rechts zum Wendseeufer von Plaue, um noch etwas Wald zu sehen. Gegenüber von der Chausseestraße hätte ein Sumpfgebiet gereizt (die im Frühling sicher lohnende Große Freiheit bei Plaue) , aber ohne Karte und an einem der dunkelsten Tage dieses dunklen Winters…
Plauer Schloss und Park
An der Seegarten-Brücke ufernah in den Schloss- oder Stadtpark. Der wirkt als Landschaftspark eng, es sei denn der Blick schweift über den See. Kirchmöser grüßt mit Schornsteinen – mit dem ersten Krieg im 20. Jahrhundert hat hier die Industrie gesiegt.
Aber das sollen wir vergessen: der Plauer Fontane-Weg lenkt jetzt den kulturbeflissenen Menschen.
Und wer ahnt es nicht? Zwischen einer sorgfältig ausgewählten Baumgruppe steht er, der sprachgewaltige, große Dichter in Vitrinenformat. Ein Nippesmännel in Bronze auf weiß getünchtem Betonsockel. Ich kenne die Entgegnung: mach es besser. Besser machen könnte heißen gar nicht machen in Respekt vor dem, was ohne Zutun ist und bleibt. Wie gern würde ich jetzt den kühl humorigen Fontane selbst hier flanieren sehen. Ganz unmerklich bin ich nämlich eingetaucht in die bunte Kreativszene von Plaue.
Ich lasse Schloss und Park hinter mir, die Lämpchendeko und einen gerade aufgebauten Empfang – die entsprechende Veranstalter-Webseite lockt mit Verfallsambiente und zum Schloss ist dort alles Wissenswerte nachzulesen.
Noch ein Blick über die alte Plauer Brücke – dieser Weg bis Brandenburg** scheint riskant. Die frühere Straßenbahnverbindung ist wegen Baufälligkeit der Brücke gekappt. Anstelle an den für mich sehenswerten Ort eines slawischen Gräberfeldes gerate ich vielleicht an den Komplex des berüchtigten Brandenburger Zuchthauses… Also durch → Plaue Richtung Bahnhof Kirchmöser.
Plaue-Pop
Über Geschmack lässt sich streiten, aber nie siegen.
Ach ich weiß, warum ich mich einst nur und nur der Natur zuwendete. Auf dieser Wanderung hat es mich wieder am Wickel: das alltägliche Kreativitätspotenzial im Kampf mit dem sozialen Notstand. Und die Akteure schaffen das!
Das Straßendorf entpuppt sich als grellbuntes Feuerwerk gegen Dunkeldeutschland. Mit postmoderner, kollektiver Heimatpflege und Farbe wird der ärmlich dörfliche Charakter einkassiert. Eine zaghafte Sprayerrevolte läuft ins Leere. Das ostdeutsche Grau findet sich nicht einmal mehr unter abblätterndem Putz; aus gleicher Zeit stammende Kachelsockel glänzen trashig gegen Gott und die Welt. Natürlich darf der Dorfbewohner auch ganz privat mit Farbe in und an Fenstern, Türen, Treppen und Briefkästen bekränzen, beblumen, bebildern und möbilieren***. Die erhaltene, beeindruckend schlichte Bauweise gibt dafür allerdings den wenigsten Häusern Raum. Jahreszeitlich reizt momentan ebenfalls kein Anlass. Ich gehe verunsichert durch die Deko-Historie. Allet Kulisse oder wat? Aus Sicht der Wahrnehmungspsychologie höchst spannend, würde unter diesem Aspekt das kollektive Leben in Plaue unter die Lupe genommen.
Längs des Waldes und der geraden Königsmarckstraße eine Wald-Siedlung, für seine Gartenstadt ist Plaue ebenfalls berühmt – von daher sicher die Anregung zur Farbe in der Hauptstraße. Dann das stahlgraue Wunder der Seegartenbrücke zwischen Plaue und Kirchmöser. Kirchmöser empfängt mit den roten Ziegelbauten der Königlich-Preußischen Pulverfabrik. Die Ausdehnung dieser Industriearchitektur beeindruckt. Was sich im Winkelturm verbirgt, habe ich nicht gefunden**** – der fällt in seiner kegeligen Bombenform eigentümlich aus dem Rahmen.
Es ist unangenehm regnerisch.
Weder die Signalstörung der Bahn ist nachmittags behoben noch heute, am 30.1., 11 h zum Abschluss der Ergänzung dieses Beitrages der Heizungsausfall im Haus der “Deutsche Wohnen” (Berlin). Eingedenk der eben bewunderten und einst aus dem Boden gestampften Industriearchitektur unserer deutschen Vorfahren, der aktuellen Desaster von Flughafen Berlin Brandenburg oder Stuttgarter Hauptbahnhof kommt mir der Gedanke, dass vieles nur in Vor- und für Kriegszeiten zu boomen und funktionieren scheint. Und ich ertrage meine Eishändchen gern.
→ *Quitzow und Karl May in der Mark Brandenburg
** Brandenburg als Stadt gehört für mich zu den ganz besonders lebenswerten Städten –
eine weit gefächerte, gut tuende Mischung von Vergangenheit und Gegenwart, etwas zu sehr zersiedelt an den wenigen “Fluchtstraßen” in die Natur.
*** moblieren, möbilieren, möbelieren und tirilieren – alles erfreulich!
**** Nachtrag: Hochbunker der Bauart Winkel
…und wer die Bilder nicht klickt, sieht nichts…