Weihnachten 2018

25.12.2018, mit dem Wandersportverein Rotation Berlin und Wolfgang Pagel am Rande der Märkischen Schweiz entlang, sehr zentral über die Stobber an der Eichendorfer Mühle, durch grüne Waldweihnacht zum einstigen Kloster Altfriedland und durch das windige Oderbruch zum Bahnhof Neutrebbin in einen warmen, leeren Zug bis Eberswalde. Wie die Gänse zu Weihnachten gestopft bis Berlin.

Die Wanderer und die Nomaden

Verzeiht, wenn ich zunächst jenseits dieser Wanderung und nach einer unruhig verbrachten Nacht nicht sofort von der traumhaft schönen Landschaft der Märkischen Schweiz berichte und nicht von meinem diesjährig letzten Wandern mit unserer Wanderleiterfamilie Pagel: wie immer auf überraschenden Wegen minutengenau berechnet für insgesamt 26 Kilometer. Heute, in der Stille eines grauen Morgens, der wieder in die Federn drückt (obwohl auch heute der Wanderplan eine Fluchtmöglichkeit anzeigt) erst einmal das, was mir im Kopf herum schwirrt nach den Bildern vom frühen Morgen des 25.12.2018.

25.12.2018, 6:30h Moritzplatz Berlin
Der 25. Dezember, als Tag der Geburt Jesu Christi ein Hauptfest des Kirchenjahres seit dem Jahre 354: kein Platz in der Herberge.

Woher der Wind weht: vielleicht wäre ihnen der Datenschutz schnurzegal, doch ich fotografiere nicht die gegenüber liegende, dichte Reihe der bereits aufgewachten oder nie zu Schlaf gekommenen Menschen.
Direkt auf dem Bahnsteig virulenter Drogenkonsum. Auf anderen Bahnhöfen wohl eher die Einzelgänger.

Weihnachten 2018 U-Bahnhof Berlin

Zu früh gekommen, umkreisen ich und bald darauf wir Wanderer das kalte Lichtgefunkel in Berlin Lichtenberg mit Weihnachtserzählungen von anderswo.
In der großen Leere sitzen Menschen unauffällig auf den Bänken, unauffällig im Schatten der Treppen. Nicht Reisende, Nomaden.

Bahnhof Lichtenberg 25.12.2018, 7h
Sieben Stunden später:
Wir Wanderer haben als Gruppe, die einen langen Tisch belegt, nicht ausreichend verzehrt, um der Geschäfts-“Philosophie“ unserer Zeit zu genügen. Nein, nicht nur auf dem Boden des einstigen Zisterzienserinnenklosters Altfriedland: solche Art Weihnachten gibt es das Jahr über an immer mehr Orten. Einfach ist einfach zu einfach. Genügend ist nicht genügend.

Abseits von der Jagd nach großem Profit: vielleicht wäre es in Zeiten der sozialen Spaltung wieder Zeit für die einst tragfähige Geschäftsidee ganz nebenher: → „Hier können Familien Kaffee kochen“, Besinnlichkeit inklusive.

Genug ist nicht genug
Du musst nicht über Meere reisen, musst keine Wolken durchstoßen und musst nicht die Alpen überqueren. Der Weg, der dir gezeigt wird, ist nicht weit. Du musst manchmal nur Deinem Nachbarn entgegengehen.
Bernhard von Clairvaux – leicht abgewandelt eingedenk mancherlei Unverständnis in der besten aller Welten.

Weihnachten mit Wind, Wasser und Wald

Wind und Regen beo Obersdorf, Märkische Schweiz
Der Wind bläst über die Felder von Obersdorf, wir wehen trotzdem nicht davon, aber nass  – nass ist es.

Entlang vom Obersdorfer Voder- und Hintersee

Am Obersdorfer Vorder- und Hintersee gehen wir entlang einer imaginären Grenze zwischen Märkischer Schweiz und Märkisch Oderland: zwischen Bergen und dem einstigen Binnendelta der Oder, das Friedrich II. in der Mitte des 18. Jahrhunderts zumindest von unten her trocken legen ließ.

Buchenteppich

Dann geht es bergauf, bergab direkt in die Berge und durch die Täler im Naturpark Märkische Schweiz: landschaftlich von immer wieder überraschender Vielfalt auf so kleinem Raum.

Hermersdorfer Forst

Die Eichendorfer Mühle im Stobbertal

An der Fischtreppe von der Eichendorfer Mühle

…und staunend hört das Publikum: mit dem Namen Stobber oder Stöbber ist es so eine Sache und der Fluss hat noch mehr komplizierte Eigenheiten mit zwei Fließrichtungen auf der Nordsee-Ostsee-Wasserscheide. Am besten noch einmal → nachlesen.

Ein Namensdurcheinander: Stobber oder Stöbber
Nach 1990 wurden Fischtreppen in dem hier naturnahen Stobber angelegt – die Stauanlagen der Mühlen hatten lange den Durchlass für wandernde Fischarten verhindert.

Vom Biber gestaut

Der gegenwärtige Stau ist allerdings kein Mühlenstau: Meister Bockert, der geschützte Biber nagt und nagt erschreckend überall auf unserer Wanderung.

Brücke an der Eichendorfer Mühle
Romantisch einsam und von Gegenwart unberührt wirkt → die Eichendorfer Mühle bis heute: auf den ersten Blick ein Sehnsuchtsort für Naturliebhaber.

Wehr an der Eichendorfer Mühle

Die Mühle soll häufig von Joseph Freiherr von Eichendorff, dem Wanderer und Dichter der Romantik, einem Nachfahre des Mühlenerbauers Peter von Eykendorff (1343), besucht worden sein.

Gemäuer an der Eichendorfer Mühle, Märkische Schweiz

Erhalt und Zugänglichkeit garantiert heute ein Verein mit zeitweiliger Betreuung  von Menschen mit Suchterkrankungen. Süchtig nach Natur gebe ich zu: mit dem Blick auf das alte Gemäuer und beim Rauschen des Wassers schwappt stets etwas Neid auf mich über.

Dachsberge und Dolgensee

Naturpark Märkische Schweiz

Nicht immer sind die Wege noch gut gangbar. Das Auge hat voll zu tun, um zwischen Boden und Blick in manchmal bizarre Natur ab und zu auch noch eine Ansicht fürs Bild zu finden. Und obwohl sich bis zum Dolgensee neben uns ein Feuchtgebiet als kleine Seenkette hinzieht – der heiße Sommer 2018 hat ein vernichtendes Werk getan.

Unendliche Trockenheit

Das Memento mori der Natur – die unendliche Geschichte von verzweifeltem Vergehen und glücklicher Wiedergeburt…

Naturpark Märkische Schweiz

Wurzelungetüm in der Märkischen Schweiz

Ja. Und höchstwahrscheinlich entspricht unser Alltagsgehirn ganz genau der Größe von dem des Bibers.

Dolgensee mit Biberfraß

Dolgensee mit jungem Biberfraß

Von der Seenkette hoch nach Karlsdorf

Karlsdorf und Altfriedland

Backofen Napoleonseiche und Lampendeko

In Karlsdorf zu sehen sind ein alter Backofen, rechts eine der außergewöhnlichen Leuchten entlang der Dorfstraße und mittig die kugelrunde Krone der monumentalen Eiche von Karlsdorf. Napoleon Bonaparte (1769–1821) soll 1812 auf seinem Feldzug gegen Russland unter dem Baum gerastet haben. Was soll’s. Diese Napoleonseiche wird auch Franzoseneiche genannt. Ich will sie Franzoseneiche nennen, denn dieser Kraftbaum hat mit Sicherheit mehr zu tun mit der französischen Revolution von 1789 und den gerade für Preußen so entscheidenden napoleonischen Befreiungskriegen.

Gehöft ind Karlsdorf
Es ist zu sehen, dass Karlsdorf und Altfriedland alte preußische Koloniedörfer am Rande des Oderbruchs sind.

Wehende Gardinen in Karlsdorf

…und erst kürzlich auch eine andere Zeit zu Ende ging und der Wind gerade heftig ins Haus weht.

Klostersee Altfriedland
Am Klostersee liegt das ehemalige Zisterzienser-Nonnenkloster von Altfriedland. Die Kirche ein sichtbar stark veränderter, frühgotischer Granitquaderbau, gegenwärtig teilweise eingerüstet…

Gemäuer der Klosterkirche Altfriedland

…das Refektorium des Klosters mit Sternengewölbe aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Sterngewölbe im Zisterzienserinnenkloster Altfriedland

Überlebenskampf

Die Klosterschänke freilich ist heutzutage nicht mehr für jedermann. Etwas schwächlich versucht hinterrücks der Igel von Haut, Knochen und Federn einer längst toten Meise wieder auf die Beine zu kommen. Und auch ich versage mit meiner Gier nach Foto anstatt an das Äpfelchen in meiner Tasche zu denke.

Ich sag’s ja: Bibergehirn.

An Stobber und Barschgraben

Totale Langeweile im Oderbruch

Unser Rückweg durch das Oderbruch geizt mit Landschaftserlebnis. Einer anderen Jahreszeit oder Witterung ist vielleicht mehr abzugewinnen. Manchmal allerdings Katastrophe: die Geschichte eines plötzlich aus dem Schilf heraus angreifenden Stechfliegenschwarmes dürfte früheren Mitwanderern unvergesslich sein.

Am Stobber Richtung Neutrebbin

Zu anderer Jahreszeit bildet das Altfriedländer Teich- und Seengebiet das Zentrum eines Europäischen Vogelschutzgebietes, jetzt und hier nur großes Schweigen auf dem Wasser und in der Luft.

Urgewalt

Zum Erlebnis werden an den Ufern des Barschgrabens die von Urgewalten geformten Monster und Gespenster, ineinander verkeilt, sperrig wehrhaft, verzweifelt sich reckend und streckend dem Untergang geweiht.

Weidengespenster

Ab und zu eine Erinnerung an das einstige Niedermoorgebiet und das versumpfte Gebiet von Stobber und Alter Oder bis der Weg endgültig hinter dem breit strömendem Stobber trist und grau bis Neutrebbin verläuft, am weihnachtlichen Nachmittag glücklicher Weise bereits in der Dämmerung mit dunkler und dunkler werdendem Himmel…

Wie der Ursprung: Sumpfland

…in die Weihnachts-Nacht

Neutrebbin am Weihnachtsabend
Neutrebbin: ein heller Stern strahlt in die Nacht. Und das soll als Zeichen dienen, ein Kind zu finden, das in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt, denn es gab keinen Raum in der Herberge.
Ein Weihnachtsmärchen für Kinder, das mit einer Bescherung endet. Doch die Geschichte setzt sich unabweisbar fort bis zur Kreuzigung, erinnert an das, was Menschen von Menschen angetan wird. So sehe ich in denen, die mir heut morgen begegnet sind dieses Kind und mehr noch die Mütter, die Besseres hoffen und nichts besser machen konnten.

Biblia pauperum in Raum und Zeit : das Christkind in der Krippe
Mit ganz besonderem Dank an Antje Fricke-Steenbock, die wie wir alle tastend in völliger Dunkelheit, mir nun dieses gelungene Foto zur Verfügung gestellt hat

Mit der christlichen Weihnacht wird wohl doch etwas mehr von jedem von uns erwartet als es im heidnischen Ursprung des Weihnachtsfestes angelegt ist.
So schließt sich der Kreis vom heutigen Morgen, über diesen Tag hinweg zu diesem Abend. Eine Frage nach dem Glauben eines jeden erübrigt sich.

2 Kommentare zu “Weihnachten 2018

  1. Nach viel weihnachtlichem Hosianna ergänze ich wütend: dass im atheistischen Realsozialismus die religiöse Leidensideologie zumindest nicht für äußerliche Not gebraucht wurde. Und: dass nicht nur denjenigen, die heute an solchem Tag herbergslos und trostlos liegen, sondern auch denen, die diverse Ausgabestellen und Tafeln nutzen müssen, das Helfersyndrom christlicher Nächstenliebe in Wahrheit total auf den Keks geht: weitaus entwürdigender als es einst die sogenannte Fürsorgediktatur getan hat.
    Und: dass vor einigen Jahren noch abends die Geschäfte Lebensmittel zu sehr herab gesetzten Preisen angeboten haben. Heutzutage sind organisiertes Abholen und Weiterverkauf ein eigenständiges, hoch gelobtes Geschäftsmodell…

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