Die Kleist-Route einmal anders

16.02.2019, Kleist-Route, 24 km mit Heinz Otto, WSV Rotation Berlin.
Frankfurt/O – Ziegenwerder – über die Oder nach Polen in die ehemalige Dammvorstadt, durch Wald und Heide bei Kunowice mit Ruine Kleistturm und Gedenkstein E.Ch. von Kleist – Słubice, Käthchen-Statue – Frankfurt/O

Der Frühling

Ihr! Deren zweiſelbaft Leben gleich trüben Tagen des Winters ohn Licht und Freude verflieſſt, die ihr in Höhlen des Elends die finſtere Stunden verſeufzt, betrachtet die Jugend des Jahres!
Ihr! Deren zweiſelbaft Leben gleich trüben Tagen des Winters ohn Licht und Freude verfliesst, die ihr in Höhlen des Elends die finstere Stunden verseufzt, betrachtet die Jugend des Jahres!

Mitte Februar. Es ist ungewöhnlich mild, gefühlte 18° mindestens. Wir wandern auf Spuren des siebenjährigen Krieges (1756-1763) in die Felder um Kunersdorf (Kunowice) wo es 1759 zum Kampf der preußischen Truppen gegen russisch-österreichische kam. König Friedrich II. von Preußen (Friedrich der Große) entrann hier dem Tod wie durch ein Wunder. Hingeschlachtet wurden andere von denen niemand erzählt. Tödlich verwundet wurde der Offizier Ewald Christian von Kleist, der in die Literaturgeschichte einging als Dichter des ersten großen Naturgedichts der Spätaufklärung: “Der Frühling” – keine Idylle, sondern im Gedenken an alle Zerstörungen durch Naturgewalten und Kriege.

Den blauen Umfang des Himmels durchbrach ein blitzendes Gold.
Den blauen Umfang des Himmels durchbrach ein blitzendes Gold.
Zwar streute der weichende Winter noch oft bey nächtlicher Umkehr von den geschüttelten Schwingen Reif, Eis und Schaure von Schnee
Zwar streute der weichende Winter noch oft bey nächtlicher Umkehr von den geschüttelten Schwingen Reif, Eis und Schaure von Schnee
Bald aber siegte der vor noch ungesicherte Frühling
Bald aber siegte der vor noch ungesicherte Frühling
Ein Teppich geschmückt mit Ranken und Laubwerk
Ein Teppich geschmückt mit Ranken und Laubwerk
Auf fernen Wiesen am See stehn majestätische Rösse, sie werfen den Nacken empor und fliehn und wiehern für Wollust
Auf fernen Wiesen am See stehn majestätische Rösse, sie werfen den Nacken empor und fliehn und wiehern für Wollust

Die Kleist-Route durch Frankfurt/O und Słubice

“Die Strecke führt in beiden Städten an landschaftlich und architektonisch interessanten Orten vorbei. Zahlreiche Lokale am Wegesrand laden zum Verweilen ein. Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Tour!“Broschüre zur Kleist-Route der Stadt Frankfurt/O

Land der Mittleren Oder
Blick ins Land der Mittleren Oder

Die Kleist-Route: Erinnerung an den Siebenjährigen Krieg und die Schlacht bei Kunersdorf 1759, an ca. 120 000 Soldaten auf beiden Seiten und etwa 36000 Verwundete und Gefallene; an das lange Sterben des Dichters und Offiziers Ewald Christian Kleist (1715 – 1759), Großonkel Heinrich von Kleists und Freund Lessings; an Heinrich von Kleist, geboren 1777 in Frankfurt/O (Suizid 1811), dessen Michael Kohlhaas populär wurde. Sein Drama Penthiselea schockt heute noch allein durch die Macht des Wortes mit ungeheurer Drastik, entfesselter Gewalt und exzessiver Leidenschaft die Abgebrühtesten. Viel Spaß! Ich weiß, warum ich keine Denkmale aus Stein oder Bronze mag. Alles, was die Geschichte mit ihren Katastrophen gefühlsmäßig erinnern könnte, ist vergessen mit dem Unterhaltungswert eines Denkmals. Von der Qualität aller figürlichen After-Kunstwerke ganz zu schweigen.

Kleistturm, Ruine 2019, Gemäuer mit der Maske des grinsenden Todes
Kleistturm, Ruine 2019, Gemäuer mit der Maske des grinsenden Todes

In den Judenbergen* nahe des blutigen Schlachtfeldes Kunersdorf: Ruine des Turmes, 1891/92 zur Erinnerung an den Tod des Ewald Christian von Kleist errichtet und 1945 von den Deutschen als Orientierungspunkt bei Anmarsch der Roten Armee gesprengt.

Gotthold Ephraim Lessing
Distichon

O Kleist! Dein Denkmal dieser Stein?
Du wirst des Steines Denkmal sein.

Gedenkstein E. von Kleist am Kuhgrund

1999 zur Erinnerung an die Kunersdorfer Schlacht und als Ehrung des Dichters Ewald von Kleist auf dem ehemaligen Schlachtfeld: die zweisprachige Gedenktafel wurde bereits nach wenigen Wochen zerstört.

Blick hügelabwärts Richtung Kuhgrund. Am Fuß der besetzten Anhöhen wurde die Oderlandschaft zum Massengrab
Blick hügelabwärts Richtung Kuhgrund. Am Fuß der besetzten Anhöhen wurde die Oderlandschaft zum Massengrab: 6000 Tote allein in Friedrichs Armee

Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland

Wie heilig müssen nicht unsern Nachkommen die Felder von Zorndorf und Kunersdorf sein! Zitternde Wehmut und ehrfurchtsvolle Schauer müssen sie durchwandeln, wenn ihr Fuß auf die schon eingefallenen Grabstätten tritt…
Und wenn ich auf dem einsamen Spaziergange, mitten unter dem lärmenden und unachtsamen Pöbel, an diesem Grab vorübergehe, dann müsse ich deine fürs Vaterland empfangenden Wunden überzählen, deine Entschließung, ihm die schon erschöpften Kräfte vollends zu weihen, fühlend bewundern und dir den Dank zollen, welchen wir den für unsere Sicherheit sich aufopfernden Patrioten schuldig sind. Wie weit läßt, aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, der sterbende Krieger den unsterblichen Dichter hinter sich!

Kein Fragezeichen, sondern ein Ausrufezeichen.

Am Kuhgrund. Copyright K.G.Brandler
Nimm den Pflug anstelle des Schwertes (Zitat, irgendwo bei E.Ch.Kleist zu finden). Ein “von Kleist” konnte diese bescheidene Größe nicht aufbringen. Am Kuhgrund bei Kunowice

 Alle Dichtung ist eine Frage der Interpretation. Geheilt von kämpferischem Patriotismus lese ich Ewald Ch. von Kleist anders: nicht schwermütig in unserem heutigen Sinn, sondern die Worte von ungeheuerlichem Realismus.

…nichts, nichts als Thorheit wirst du sehn
Und Unglück. Ganze Länder fliehn,
Gejagt vom Feuermeer des Kriegs,
Vom bleichen Hunger und der Pest,
Des Kriegs Gesellen.

Von Neuerschlagnen raucht umher das Feld
Weh dir, dass du gebohren bist!… Von Neuerschlagnen raucht umher das Feld, Blut und Gehirn und Leichen deckten es

Konkret Geschichtliches kann detailgenau überall nachgelesen werden. Der Landschaft selbst ist an diesem Frühlingstag nirgends Bedrohliches abzugewinnen.

Am Elsenbruch

Ich schließe meinen Bericht mit dem Heinrich von Kleist zugeschriebenen

Gebet des Zoroaster

Gott, mein Vater im Himmel! Du hast dem
Menschen ein so freies, herrliches und üppiges Leben bestimmt.
Kräfte unendlicher Art, göttliche und thierische,

spielen in seiner Brust zusammen, um ihn
zum König der Erde zu machen. Gleichwohl, von
unsichtbaren Geistern überwältigt,
liegt er, auf verwundernswürdige und unbegreifliche Weise,
in Ketten und Banden; das Höchste, von Irrthum geblendet,
läßt er zur Seite liegen, und wandelt, wie mit Blindheit geschlagen,
unter Jämmerlichkeiten und Nichtigkeiten umher.
Ja, er gefällt sich in seinem Zustand; und wenn die Vorwelt nicht wäre
und die göttlichen Lieder, die von ihr Kunde geben,
so würden wir gar nicht mehr ahnden, von welchen Gipfeln, o Herr! der Mensch
um sich schauen kann.

Elsenbruch
Elsenbruch, jenseits der Naturschutzgebiete “Auwälder bei Słubice” längst fast staubtrocken melioriert

Ungeordnete, kursiv ausgezeichnete Zitate nach Ewald Christian von Kleist, Ihn foltert Schwermut, weil er lebt,
Märkischer Dichtergarten, Buchverlag der Morgen, Berlin 1982; G. E. Lessing S. 288; Th. Abbt S. 285;
E. Ch. von Kleist, Zeilen aus dem Gedicht “Der Frühling”; “Cißides und Paches”, Zweiter Gesang S.144 sowie “Geburtslied”, S.97 und 98

*Der auch verwendete Name “Laudon-Berge” bezieht sich nur auf den Bereich der Stellung des österreichischen Oberbefehlshabers Gideon Ernst Freiherr von Laudon in der Schlacht bei Kunersdorf. Bezeichnend für die Erinnerungskultur nach dem genealogischen Prinzip des Adels und der Vorstellung von militärischem Heldentum jenseits von Freund und Feind: auch E. Ch. von Kleist wurde zuletzt von einem Hauptmann der russischen Cavallerie aufgefunden, als preußischer Offizier versorgt und von der eigentlich feindlichen, russischen Garnison in Frankfurt/O ehrenvoll begraben.

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