7.12.2019, ca. 24 km. Słubice – Rezerwat Łęgica – Pomnik Świecko – Heiligenhäuschen St. Hubertus – Fernverkehrsstraßen Richtung Park Odra – Słubice, Restauracja „Bagatela“ – Bahnhof Frankfurt (O). WSV Rotation mit Piotr Świątkowski: 100. Wanderung!
Mehr Asphalt und Auto als auf allen bisherigen 100 Strecken zusammen – DAS bleibt im Gedächtnis!
Die andere Seite
Von Słubice aus, ebenso wie vom Ziegenwerder Frankfurt (O), gibt es den weiten Blick in die Oderaue. In Odermitte verläuft die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen.
Richtung Süd auf polnischer Seite – selten wird hier gewandert. Und nein, wir biegen nicht ab Richtung Kunowice und Schlachtfeld-Schlucht von 1759. Nach den Oder-Auen von Słubice wird die Eisenbahnstrecke und die Autobahn Deutschland – Polen unterquert.
In Abschnitten und deutsch-polnischer Gemeinschaft entstand zwischen 1953 und 1997 die heutige Autobahnrücke. Die Stahlbetonbrücke besteht in Längsrichtung aus zwei Reihen mit je sieben eingespannten Bögen. → Oderbrücke A12
Ingenieur-Ästhetik
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Lager Schwetig
Das Anfangskapitel dieser Autobahn steckt mir noch von meinen Touren um Güldendorf*** in den Knochen und im Gedächtnis. Im deutschen Schwetig, heute Świecko, ist von 1940 bis 45 ein Zwangsarbeiterlager für den Reichsautobahnbau** nachgewiesen. Zum Bau der Autobahnbrücke kam es nicht mehr nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
Auf polnischer Seite: eine polnische Gedenkstätte wider das regionale Vergessen.
Świecko heute: eine Jagdgenossenschaft, keine Kirche, eine Litfaßsäule und Häuser, die an einer Hand abzuzählen sind.
Jubiläum auf Polens Fernverkehrsstraßen
Kann der erste Teil unserer Wanderung ganz nach Definition als “eine mit Naturerleben verbundene, gemäßigte Sportart” gelten und die erste von 100 Wanderungen als toll, so ist die 100. ein tollkühner Test: Wie gefährlich sind Polens Fernverkehrsstraßen?
Autostrada Wolności mit allen Schleifen und Abzweigen. Die höchste Stufe von Duchhaltevermögen beweist der Wanderleiter: weiterhin lächelnd, auch wenn die Augen in den Abgasen tränen, die Schleimhäute anschwellen, der Atem pfeift und vom Autolärm die Ohren einen Hörverlust erleiden.
Wir kämpfen uns vorwärts.
Kurze Erholungspause im roten Buchenlaub “Park Odra”. Bestens erwandert bereits → im Februar 2019.
Das Feiern in der „Bagatela“ gerät zu höchst notwendiger Rekonvalezenz: Bigos, Pelmeni und Piwo aus guter Küche mit Dank an die Organisation unserer polnischen Mitwanderin!
23.02.2019, mit Eckart Böhringer, WSV Rotation Berlin. Wanderung in die Neumark/Polen von Górki Noteckie/Gurkow entlang an der Santoczna/Zanze nach Zdroisko/Zanzthal, Santoczno/Zanzhausen und Łośno/Lotzen
Zdroiskie Buki – die Buchen von Zanzthal
Warnung im Voraus: von Berlin aus zum Bahnhof Górki Noteckie (Gurkow) zu gelangen, ist eine logistische Herausforderung.
Vom Halt Górki Noteckie aus ist das Wald- und Landschaftsreservat Zdroiskie Buki dann aber zu Fuß schnell erreicht. Der Buchenwald zieht sich von den bergigen Höhen bis in das tiefe Tal der Santoczna/Zanze. Die Santoczna/Zanze schlängelt sich hier in ihrem natürlichen Lauf, durchfließt oberhalb von Santoczno/Zanzhausen – unserem nördlichen Ziel – mehrere Seen und mündet bei Górki Noteckie im ehemaligen Sumpfland des Netzebruchs kanalisiert.
Zeitgemäß zwischen Zdroisko und Santoczno
Zdroisko/Zanzthal erstreckt sich mit neuen Feriensiedlungen bis ans Ufer der Santoczna/Zanze. Ob sich dort wenigstens ein Trampelpfad Richtung Santoczno/Zanzhausen entlang windet, erkunden wir nicht. Aus Zeitgründen sicherer ist die wenig befahrene Straße, wenn auch nicht zu jeglicher Zeit…
Die Zähmung der Santoczna/Zanze
Wir erwischen einen Abzweig geradewegs ins Sumpfland. Trotzdem Glück gehabt mit leicht gefrosteter Tiefe und noch der Trockenheit des vergangenen Jahres: es geht über den tückischen Boden gefahrlos. Noch etwas wegeloses Gestrüpp und dann weiter am jetzt kanalisierten Zanzeufer – gebaut für den Betrieb des einstigen Hammer- und Hüttenwerkes in Santoczno/Zanzhausen.
Polnisch – europäisch – global
Santoczno/Zanzhausen punktet mit Laden und integrierter Gaststätte, gegenüber der quietschbunte Spielplatz im sogenannten Park. Und undenkbar ist Polen ohne die überall in diversen Bauzuständen befindlichen Einfamilienhäusle. Schade, kaum ein Haus in Zdroisko oder Santoczno hat Charakter. Ganz “nach eigenem Geschmack”: zusammengestellt aus dem globalen Deko- und Hobby-Baumarkt. Das kennen wir.
Santoczno – Zanzhausen: das Hüttenwerk
Vom einstigen, wohl riesigen Hüttenwerk Zanzhausen ist wenig erhalten: die besagte Kanalisierung der Zanze sowie die Fachwerkkirche, die als Umbau eines Lagerraumes mit einem ungewöhnlich breiten Mittelschiff und den wenigen, schmückenden Details die ehemalige Hütte erinnert. Eine gusseiserne Platte zeigt das Modell der ersten deutschen Dampfmaschine, für die in Zanzhausen Teile hergestellt wurden.
In memoriam
Das Lapidarium am Fuß des einstigen deutschen, evangelischen Friedhofs aus dem 19. Jahrhundert wurde “2006 durch die Bürger von Santoczno in ehrenamtlicher Arbeit gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Landsberg (Warthe) Stadt und Land e. V. errichtet.” So der Gedenkstein.
Das ist Geschichtsaufarbeitung wie sie seit mehreren Jahren überall in Polen stattfindet.
Am Ortsausgang eine Fahrzeugsammlung der polnischen Armee, die hier während des 2. Weltkrieges und seit 1945 konzentriert war. Das eine sollte wohl nicht ohne das andere gedacht werden.
Von Łośno und Gorzow-Wielkopolski ziemlich direkt nach Hause
Noch einmal durch Mischwald und Buchenwald. Ein Sandweg wie mit dem Lineal gezogen; in der endlich herrlich wärmenden Sonne ist die Marschroute aber vergessen.
Łośno/Lotzen lässt als Ortschaft noch ganz die Struktur der frühen Kolonisation der Neumark erkennen: verstreute, einzelne Gehöfte. Die Kirche auf der einzigen Erhebung in dieser weiten Ebene dürfte ein künstlicher Hügel sein, wahrscheinlich eine verfallene Glashütte wie sie durch intensive Holznutzung die Bewirtschaftung als Ackerboden erst ermöglichte, gleichzeitig aber die Grundlage der eigenen Arbeit vernichtete.
Es braucht einige Geschichtsbesessenheit, um von der Neumark begeistert zu sein – sogar wenn sie sich so naturschön wie im Zanzetal gibt. Ansonsten erinnern zumindest mich der preußische Fleiß, die preußischen Tugenden und der entsprechende wirtschaftliche Aufschwung ständig an eine Ostexpansion, die mit Blut- und Bodenargumenten gar kein Ende mehr nehmen wollte und der das schrecklichste Ende folgte.
16.02.2019, Kleist-Route, 24 km mit Heinz Otto, WSV Rotation Berlin.
Frankfurt/O – Ziegenwerder – über die Oder nach Polen in die ehemalige Dammvorstadt, durch Wald und Heide bei Kunowice mit Ruine Kleistturm und Gedenkstein E.Ch. von Kleist – Słubice, Käthchen-Statue – Frankfurt/O
Der Frühling
Mitte Februar. Es ist ungewöhnlich mild, gefühlte 18° mindestens. Wir wandern auf Spuren des siebenjährigen Krieges (1756-1763) in die Felder um Kunersdorf (Kunowice) wo es 1759 zum Kampf der preußischen Truppen gegen russisch-österreichische kam. König Friedrich II. von Preußen (Friedrich der Große) entrann hier dem Tod wie durch ein Wunder. Hingeschlachtet wurden andere von denen niemand erzählt. Tödlich verwundet wurde der Offizier Ewald Christian von Kleist, der in die Literaturgeschichte einging als Dichter des ersten großen Naturgedichts der Spätaufklärung: “Der Frühling” – keine Idylle, sondern im Gedenken an alle Zerstörungen durch Naturgewalten und Kriege.
Die Kleist-Route durch Frankfurt/O und Słubice
“Die Strecke führt in beiden Städten an landschaftlich und architektonisch interessanten Orten vorbei. Zahlreiche Lokale am Wegesrand laden zum Verweilen ein. Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Tour!“ – Broschüre zur Kleist-Route der Stadt Frankfurt/O
Die Kleist-Route: Erinnerung an den Siebenjährigen Krieg und die Schlacht bei Kunersdorf 1759, an ca. 120 000 Soldaten auf beiden Seiten und etwa 36000 Verwundete und Gefallene; an das lange Sterben des Dichters und Offiziers Ewald Christian Kleist (1715 – 1759), Großonkel Heinrich von Kleists und Freund Lessings; an Heinrich von Kleist, geboren 1777 in Frankfurt/O (Suizid 1811), dessen Michael Kohlhaas populär wurde. Sein Drama Penthiselea schockt heute noch allein durch die Macht des Wortes mit ungeheurer Drastik, entfesselter Gewalt und exzessiver Leidenschaft die Abgebrühtesten. Viel Spaß! Ich weiß, warum ich keine Denkmale aus Stein oder Bronze mag. Alles, was die Geschichte mit ihren Katastrophen gefühlsmäßig erinnern könnte, ist vergessen mit dem Unterhaltungswert eines Denkmals. Von der Qualität aller figürlichen After-Kunstwerke ganz zu schweigen.
In den Judenbergen* nahe des blutigen Schlachtfeldes Kunersdorf: Ruine des Turmes, 1891/92 zur Erinnerung an den Tod des Ewald Christian von Kleist errichtet und 1945 von den Deutschen als Orientierungspunkt bei Anmarsch der Roten Armee gesprengt.
Gotthold Ephraim Lessing
Distichon
O Kleist! Dein Denkmal dieser Stein?
Du wirst des Steines Denkmal sein.
1999 zur Erinnerung an die Kunersdorfer Schlacht und als Ehrung des Dichters Ewald von Kleist auf dem ehemaligen Schlachtfeld: die zweisprachige Gedenktafel wurde bereits nach wenigen Wochen zerstört.
Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland
Wie heilig müssen nicht unsern Nachkommen die Felder von Zorndorf und Kunersdorf sein! Zitternde Wehmut und ehrfurchtsvolle Schauer müssen sie durchwandeln, wenn ihr Fuß auf die schon eingefallenen Grabstätten tritt… Und wenn ich auf dem einsamen Spaziergange, mitten unter dem lärmenden und unachtsamen Pöbel, an diesem Grab vorübergehe, dann müsse ich deine fürs Vaterland empfangenden Wunden überzählen, deine Entschließung, ihm die schon erschöpften Kräfte vollends zu weihen, fühlend bewundern und dir den Dank zollen, welchen wir den für unsere Sicherheit sich aufopfernden Patrioten schuldig sind. Wie weit läßt, aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, der sterbende Krieger den unsterblichen Dichter hinter sich!
Kein Fragezeichen, sondern ein Ausrufezeichen.
Alle Dichtung ist eine Frage der Interpretation. Geheilt von kämpferischem Patriotismus lese ich Ewald Ch. von Kleist anders: nicht schwermütig in unserem heutigen Sinn, sondern die Worte von ungeheuerlichem Realismus.
…nichts, nichts als Thorheit wirst du sehn
Und Unglück. Ganze Länder fliehn,
Gejagt vom Feuermeer des Kriegs,
Vom bleichen Hunger und der Pest,
Des Kriegs Gesellen.
Konkret Geschichtliches kann detailgenau überall nachgelesen werden. Der Landschaft selbst ist an diesem Frühlingstag nirgends Bedrohliches abzugewinnen.
Ich schließe meinen Bericht mit dem Heinrich von Kleist zugeschriebenen
Gebet des Zoroaster
Gott, mein Vater im Himmel! Du hast dem
Menschen ein so freies, herrliches und üppiges Leben bestimmt.
Kräfte unendlicher Art, göttliche und thierische, spielen in seiner Brust zusammen, um ihn zum König der Erde zu machen. Gleichwohl, von unsichtbaren Geistern überwältigt, liegt er, auf verwundernswürdige und unbegreifliche Weise, in Ketten und Banden; das Höchste, von Irrthum geblendet, läßt er zur Seite liegen, und wandelt, wie mit Blindheit geschlagen, unter Jämmerlichkeiten und Nichtigkeiten umher. Ja, er gefällt sich in seinem Zustand; und wenn die Vorwelt nicht wäre und die göttlichen Lieder, die von ihr Kunde geben, so würden wir gar nicht mehr ahnden, von welchen Gipfeln, o Herr! der Mensch um sich schauen kann. …
Ungeordnete, kursiv ausgezeichnete Zitate nach Ewald Christian von Kleist, Ihn foltert Schwermut, weil er lebt,
Märkischer Dichtergarten, Buchverlag der Morgen, Berlin 1982; G. E. Lessing S. 288; Th. Abbt S. 285;
E. Ch. von Kleist, Zeilen aus dem Gedicht “Der Frühling”; “Cißides und Paches”, Zweiter Gesang S.144 sowie “Geburtslied”, S.97 und 98
*Der auch verwendete Name “Laudon-Berge” bezieht sich nur auf den Bereich der Stellung des österreichischen Oberbefehlshabers Gideon Ernst Freiherr von Laudon in der Schlacht bei Kunersdorf. Bezeichnend für die Erinnerungskultur nach dem genealogischen Prinzip des Adels und der Vorstellung von militärischem Heldentum jenseits von Freund und Feind: auch E. Ch. von Kleist wurde zuletzt von einem Hauptmann der russischen Cavallerie aufgefunden, als preußischer Offizier versorgt und von der eigentlich feindlichen, russischen Garnison in Frankfurt/O ehrenvoll begraben.
Erinnerungstest. 6. Februar 2019, insgesamt 18 km von Oderberg im Solo zu zweit auf sicherer und sauberer Variante an der Alten Wriezener Oder bis zum ausgeschilderten, rechtwinkligen Abzweig Hohenwutzen. Über die Grenzbrücke mit sinnlos verbautem Zugang zum Oderufer und zum westlichsten geografischen Punkt Polens, an der Odra bis Stary Kostrzynek (Alt Küstrinchen), durch die Felder zum Góra Czcibora mit Denkmal für die Schlacht bei Zehden im Jahre 972.
Erinnerungen: an weite, unvergessliche Strecken mit dem Wandersportverein Rotation Berlin, an verfallende Häuser meiner Sehnsucht – inzwischen Refugien von Naturliebhabern. Erinnerung hier an der Oder wie westlicher nirgends mit so sichtbaren Spuren an nicht den letzten, aber den im Gedächtnis haftenden Krieg und die Nachkriegszeit.
Die Oder oder Odra. Mit weiblichem Vorzeichen und friedlich fließt der gewaltige Strom inzwischen als Grenze zwischen Deutschland und Polen. Ich fühle mich sicher als Fremde in der Begegnung mit den Menschen, die mir in dieser Gegend nicht fremd vorkommen.
Ja, das ist die Odra und nicht die Oder. Oder beides. Nur selten und mit Mühe künstlich eingezwängt und ohne sich in die Auen auszubreiten. Pures Silber in der Sonne.
Farblich höchst lebendig grüsst das Kirchlein von Alt-Küstrinchen vom Berg. In meiner Erinnerung geistert ein Bericht vom Wiederaufstellen alter deutscher Grabsteine in diesem Stary Kostrzynek auf Grund einer katholischen Initiative – aktuell von mir in Verbindung gedacht zur geplanten Entwidmung von Friedhöfen durch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Von einem Friedhof ist im Umkreis nichts zu entdecken – vielleicht was verwechselt…*
Sehr viel besser als Namen malt meine Erinnerung die Landschaft. Von GPS sollte ich mich hier nicht verunsichern lassen, von der tickenden Uhr bin ich es. Die einst wohl beackerte Hochfläche hat bereits ganz den Charakter der dahinter liegenden Calluna-Sandheide. Nun gut, auf den treppensteilen Góra Czcibora jappsen wir noch, damit der westlichste geografische Punkt von Polen auch historisch erklärt und geehrt ist.
Die Zeit des Wanderns und die Zeit des Fahrens mit öffentlichen Verkehrsmitteln von meinem geografischen Mittelpunkt Berlins zum geografischen, westlichsten Punkt Polens halten sich leider die Waage: Berliner U-Bahn bis Gesundbrunnen (Rückfahrt mit unregelmäßigem Verkehr wegen Ausfall alter Wagen…), Bahn bis Angermünde, Bus bis Oderberg. Mit Dank an meine Begleitung für die smarte App-Führung zu einer zeitnahen Rückfahrt von Hohenwutzen nach Bad Freienwalde, Werneuchen etc.
Eine direkte Verbindung von Berlin Rhinstraße bis Hohenwutzen ist einem Sonderbus vorbehalten – freilich nur direkt zum “Polenmarkt” am Ufer der Odra. Voll besetzt braust er in Hohenwutzen an uns vorüber.
Und: irritierend derzeit parallel zur Oder auf deutscher Seite ein→ Trassenbau Pipeline. Zu queren ist das auf wilden Wegen nicht.
*nein, nix verwechselt, auch die aktuelle Pflege des Friedhofs dürfte irgendwo zu finden sein.
19. – 28.Juli 2018
Erfahrungsbericht einer Wanderreise zu Wasser und zu Land
mit dem Wandersportverein Rotation Berlin e.V., Leitung Eckhard Knauer
Von Berlin nach Borsk/Polen
Anreise mit Regionalzügen über Szczecin (Umsteigebahnhof), Piła, Chojnice (Umsteigebahnhof) nach Czersk. Graue Wolken, leichter Regen nach langer Hitzeperiode. Wälder, Wälder, Wälder. Von den wenigen, kleinen Stationen scheinen die meisten auf diversen Sandwegen ins Nirwana zu führen.
Bevor wir unsere vorjährig befahrene Brda (Brahe) überqueren, erschreckt die Wirkung eines Tornados. 2017 im Juli/August fegten schwere Unwetter über die Wojewodschaft Großpolen: weite Flächen Wald vernichtet. Sichtlich knickte nur die Kiefern-Monokultur wie Streichhölzer weg. Ab und zu reckt ein gezauster Laubbaum warnend seine gebrochenen Äste in den Himmel: wir brauchen in Zeiten des Klimawandels anderen Wald!
Von Czersk nach Borsk mit den Autos vom Kajakverleih aus Swornegacie – der bewährte vom vergangenen Jahr, nicht ortskundig – dafür gibt es zu zahlreich die Kajakangebote an diesen Flüssen und Seen. Wir landen im Wüsten. Das nervige Zeitproblem hat der Kajakverleih. Wir haben einen relaxten Wanderführer mit Garmin: da ist er, ein kleiner, umzäunter Campingplatz von bewährt polnischer Qualität mit Ausblick auf Reitbahn und Pferde.
Unsere Flotte wird abgeworfen: 2 Einerkajaks und 5 Zweierkajaks.
Die Wda (Schwarzwasser) hat das sogenannte kaschubische große Wasser (zuletzt den See Wdzydze) durchflossen. Vor uns liegen bis Tleń ca. 111 Kilometer. Die genaue Kilometerzahl wird sich nach fahrtechnischen Eigenheiten geringfügig unterscheiden: ob die Mäander des Flusses voll ausgefahren oder quer geschnitten werden etc. Der Oberlauf der Wda wäre spannend, aber ist wohl wegen der Schwierigkeit prinzipiell den Einerkajaks vorbehalten.
Am Campingplatz Borsk rauscht das Wasser der Wda etwas zu gleichmäßig abgehackt durch die Mini-Schleuse, um in ruhigen Schlaf zu wiegen.
Fr. 20.07. Gelandet am Jezioro Wieckie
Nach einigen Mäandern gabelt die Wda zur Wässerung von angelegten Wiesen in einen Kanal. Rechts über ein Wehr fließt sie als schmaler, malerischer Altarm. Die kleine Bucht gibt gute Möglichkeiten nach dem Umtragen einzusetzen. Der Schwall vom Wehr und die angesagten Stromschnellen tragen leicht über gar nicht sichtbare Steine.
Der Fluss mäandert durch Wiesenlandschaft und zieht auch nicht paddelnde Boote mit sich.
Eine niedrige Brücke – es geht sogar quer hindurch. Aber etwas stimmt nicht. Lächerliche 10 Kilometer bis Miedźno, dahinter auf der rechten Fluss-Seite das archäologische Reservat Kamienne Kręgi, ein Kultort mit mehreren Steinkreisen und Hügelgräbern: größtes Gelände seiner Art in Polen und zweitgrößtes in Europa. Unmerklich sind wir vorbei geschippert. Der flotte Fluss und die versteckten Landeplätze verlangen Äugen und anders als vorgezeichnet ein flexibles Reagieren. Wir landen ohne Anstrengung im Dorf Wojtal Richtung Odry.
Was nun? Übererfüllter Plan. Folgsames Volk.
Irgendeine Bar frißt Zeit. Am Mühlenwehr muss über die Straße umgetragen werden. Die Wda wird durch kaum sichtbare Zuflüsse breiter und tiefer. Tapfer wird gepaddelt. Zum Jezioro Wieckie zweigt ein kurzer Arm der Wda ab – nicht ganz durchgehend, aber das weiß man erst später. Ein lauschiges Plätzchen, Steg, Wasser, Toilette und Tisch gibt es mit polnischer Großzügigkeit gratis. Ich ernte Richtung See Augustäpfel und Maulbeeren. Der Tag hat noch immer ausreichend Stunden, um auch die waldige Seite des Sees zu besichtigen, den Einheimischen die mäßige Qualität ihrer Badestelle nicht zu neiden und einen Strauch Himbeeren leer zu futtern.
Ich liege am schwarzen Fluss mit Blick in den Sternenhimmel – sicher beides einst Grenze zwischen der profanen und der sakralen Welt. Was treibt uns nur weiter mit so wenig demokratischen Absprachen: die Angst vorm Verhungern, Verdursten, vor zu viel Zufällen einer organisierten Wanderfahrt? Dreimal kräht zwar kein Hahn, aber dreimal gäbe es eine Chance, die kurze Route zu der Megalithanlage zu finden.
Sa. 21.07. Schwarze Seele auf Schwarzwasser
Morgens ein Ausnahme-Geburtstagsständchen, dann das übliche Procedere: Kaffee, Müsli, packen, verstauen, Boote einsetzen: ab.
Die Sonne brennt und blendet. Direkt auf dem Wasser ist es gerade noch erträglich. Hopps, da sind wir schon in Czarna Woda am Rande der Tucheler Heide. Es waren ja nun noch weniger als die geplanten 12 km bis Wypożyczalnia Kajaków i Pole „Pod Świerkami“. Gepflegt, mit Kurortbeleuchtung am Brückenbogen über dem Teich. Die Frösche zahlreich, aber stumm.
Entlang einer öden Straße schleppen wir uns in Mittagshitze zum Einkauf und dem feierlichen Anlass entsprechend zur Einkehr. Wer keine Scheu vor Landstraßenmotorkrach hat, findet → hier ein reiches Angebot leckerer, polnischer Speisen, sogar Kwas, ein ostslawisches Getränk, das durch Gärung aus Brot hergestellt wird. Nicht zu vergessen: reizende, junge Bedienung.
Den Stadtrundgang haben wir mit dem Blick auf den modernen Kirchenbau und das geschlossene Minimuseum „Die Natur der Tucheler Heide“ im Vorbeigehen absolviert. Irgendwo liegen die Moore hinter diesem Örtchen Schwarzwasser (Czarna Woda), die dem Fluss angeblich seine dunkle Farbe geben. Dort möchte wirklich niemand mehr hin. Und der Grund der Wda leuchtet trotzallem immer wieder gelb-rot und hell.
Aber ab morgen bitte wieder etwas Power!
So. 22.07. Stille und Weite oder Sonntagslangeweile
Von Czarna Woda nach Czarne sind 16 km zu paddeln. Einst (?) eine sumpfige, unzugängliche und wirtschaftlich unattraktive Gegend. Kein Wunder: von Złe Mięso (Schlechtes Fleisch) erzählt man sich, wie Vorbeikommende abgefangen und zu Wurst verarbeitet wurden. Mit → ein paar schwarzen Erinnerungen kratze ich gegen das Gefühl einer Sonntagskaffee-kuchen- oder auch -computerlähmung an (auch wenn real nichts davon zumindest in meinem Gepäck ist).
Die Wda ist breit geworden, die Strömung langsam. Trotzdem – oder gerade deshalb – schaffe ich es hier oder an anderer Pillepallestelle, meine selbst gebastelte Kufiya in ein Geäst zu hängen und in die genau dort einmal wirklich kohlschwarze Wda zu versenken. Schade.
Die Alternative wäre ein davon geschwommenes Paddel gewesen…
Jetzt ist die Alternative ein Schal.
Dann am Forstamt Czubek eine weitläufige, wunderschön gelegene Camping- und Ferienanlage mit FKK Angebot – in der Nähe allerdings wohl nicht, immerhin eine Seltenheit in Polen. Von hier ist es nicht mehr weit bis zum kleinen Wiesenplatz Czarne mit Imbissbude, völlig ausreichend, um glücklich zu sein.
Auffällig: Campingbetrieb ist hier an der Wda überall hervorgegangen aus einstigen Forsthäusern, vielleicht wird er auch nebenher betrieben.
Ich habe Ermüdungserscheinungen, fühle mich nicht ausgelastet, trotzdem zu lustlos, um in der Hitze durch Feld und trockenen Kiefernwald zu wandern. Und wirklich entpuppt sich der Jezioro Gogolinek nach zwei Kilometern als ein pisswarmer Minisee – wenigstens einmal schwimmen, halb bekleidet unter Beobachtung von Ferienhaus-Urlaubern.
Übrigens: wenn wir gegen Mittag irgendwo anlanden, paddeln Polen bis zum Entfachen des Lagerfeuers immer noch einmal los. Natürlich: wir sind nicht als Romantiker für Abendstimmungen an die Wda gefahren, sondern als Sportler. Als was bitte?
Mo. 23.07. Lubichowo und motorisierte Gastlichkeit
Von Czarne aus paddeln wir ermüdend langsam …Młynsk – Mały Bukowiec – Osowo Leśne… nix davon wirklich auszumachen – ereignislose Landschaft. Bis ein Baum quer liegt. Nicht verzeichnet als Gefahrenstelle. Sieht moorig matschig aus, einfach nur blöd. Dem Himmel sei Dank: Ich suche erst einmal mein Smartphone für ein Foto, verpasse das entsetzte Einsinken bis über die Knie. DAS möchte niemand allein erleben. Wir legen das Schilf flach, um überhaupt Stand zu bekommen.
Dafür rutschen jetzt die Boote mit Sack und Pack wie Butter.
Sind wir nun zwar geistig munter aber körperlich schlapp geworden? Linksseitig vor einer Straßenbrücke kraucht jedenfalls niemand die Treppe zu einem Denkmal hoch. Für Gedenksteine jenseits der Megalithkulturen gibt es in der Bory Tucholskie so gut wie nur zwei Anlässe: Kriegsereignisse 1944 oder den paddelnden Karol Wojtyła. Richtig: Papst Johannes Paul II; später noch einmal auf dem Zeltplatz – unleserlich, aber zumindest auf dem letzten Schliff des Steines zu ermitteln.
Nach 17 km: Młynki. Neben dem Forsthaus (natürlich wieder!) der Campingplatz. Sehr angenehm, mit Pferden, aber ohne Verpflegung. Zum Einkaufen führt Asphalt geradlinig nach Lubichowo. Meine ersten Erwerbungen abgesehen von Eis: Buttermilch, Räucherkäse, Brot.
Wann, wie, wo weiter? Es ist zu sehen: der Jezioro Lubichowskie wäre zu umrunden, zumindest ohne Weg. Fam. Pagels Garmin sagt nein. Technik nerv, nerv. Zum Baden reicht mir die Wasserqualität nicht, sowieso gibt es nur im Ort eine Textilbadestelle. Sinnlos warten – rund ist rund und der Tag lang. Der stille, schattige Uferweg endet im offenen, privaten Garten. Besser noch einmal fragen. In der Poliklinik werden alle verfügbaren Menschen von der Pförtnerin bis zu den Patienten und letztendlich vielleicht eine Ärztin mobilisiert. Aha, letztere gehört in besagtes Privathaus und weiß: nur noch die Kurve bis Stacja Lubichowo, ein verfallenes Backstein-Bahnhofsgebäude. An den Schienen entlang, nach rechts einen schmalen Pfad am Ufer durch die Wiesen: stimmt, ist leider erst zu Haus mit → Google-Luftbild genau zu erkennen!
Am Abzweig geht es allerdings auch weiter außen herum oder noch schneller quer durch den Wald, gänzlich ohne die ätzende Asphaltstraße. Risikoreiches Geschlängel, Sumpf?
Ein letztes Haus im Feld, eine junge Frau mit Kindern im Auto – wir diskutieren ausgiebig die Wegemöglichkeiten in Sandmalerei. Mitbewohner werden zu Rate gezogen – in jeglicher Sprache: “völlig unmöglich!”
Ich vertraue mich dem Auto an – die Kinder im Auto erdulden es. Erst als wir unsere auf der Straße marschierende Gruppe erreichen, werde ich entlassen. Dziękuję bardzo, dziękuję bardzo!
Nachträglich sehe ich: um das Haus führt wirklich nur ein Rundweg. Aber: es wäre keine 4 km problemlos auf Wald- oder Wiesenweg gegangen! Ach, es ist wie in Deutschland: von 10 Menschen kennt höchstens einer die Wege ohne Auto. Und 4 oder gar 6 km bewältigen? Unvorstellbar!
Di. 24.07. Bory Tucholskie mit Badesee
Planmäßig werden die 13 km von Młynki nach Wdecki Młyn absolviert.
Zwischenstopp im Dörfchen Wda mit Storchennest und bestausgestattetem “Sklep”. Es müsste keine Panik aufkommen bis ganz zum Ende unserer Fahrt. Dann wieder der Fluss in nun schon bekannter Qualität bis er sich vor einer Staumauer mit Wehr weitet: heftig von einem Schwan verteidigt zum Schutz seiner Familie. Abgesehen von seinen Angriffen ist es am rechten Ufer relativ einfach umzutragen.
Ach, wie ich den einsamen Faltbootfahrer beneide, mit dem ich jetzt noch einmal sein Boot einsetze…
Wieder ein großer Campingplatz beim Forsthaus (!), etwas weiter vom Ufer und dort wohl auch die Infrastruktur. Direkt am Platz ein Wasserhahn an einem Haus; → die Toilette erstreckt sich mit weißen Papierfetzen weit über die Wiesen :((
Die Besichtigung eines Gutsparkes entfällt wegen Privatbesitz ohne Bedauern.
Der See Kochanka lockt. Suchend nach einer Badestelle am Steilufer geht nach rechts ein Pfad bis der See über einen Verbindungsgraben in die Wda fließt. Schluss und aus – schnell wenigstens ein Vitaminschub Preiselbeeren… Unsere halbierte Gruppe versucht es noch einmal nach links. Siehe da: wir sind wieder 12 und am Ende alle wunderbar in wunderbarem Wasser geschwommen.
Nachmittags (nachmittags!!!) gibt es diesmal Wurst und Kartoffeln vom Feuer.
Die Schwalben fliegen am Sommerhimmel bis spät in den Abend.
Mi. 25.07. Krzywe Kolo – Krummer Kreis oder die Schleife der Wda
Nebel liegt über Wdecki Młyn. Zeit auf das Wasser zu kommen. Aber das dauert.
Zurawki mit steilem Ufer ist dann bald erreicht. Schon wieder auspacken, Gepäck und Boote hoch wuchten? Der Kräfteverschleiß ist doppelt und dreifach größer als beim Paddeln. Die Einsicht ist allgemein. Nächster Versuch: Luby.
Ab Zurawki wird die Strecke als urwaldmäßig beschrieben. Nur etliche Hähne krähn dagegen an. In den sumpfigen Uferzonen lauern die Bremsen. Ich hetze polnischen Zweierkajaks nach. Das Klotzen durch die Landschaft hat den Vorteil, diesem Viehzeug zu entgehen. Die polnische Gruppe will weder nach Luby, noch nach Błędno, sondern bis Tleń – sie wissen was sie tun…
Ich warte in Luby an einem verkrauteten, ewig nicht mehr benutzten Steg mit Bänkchen, daneben ein Haus auf dem Hang: pikobello neu – da gibt man freilich der Natur lieber als den durchziehenden Kajakmeuten Raum. Der Wink ist ohne Zaunpfahl zu verstehen: wir fahren durch bis zur Donnerstags-Etappe Błędno, ca. 25 km (also geht doch…!!!)
Ab Luby beginnt das NSG Reservat Krzywe Kolo (Krummer Kreis) mit endlosen, engen Mäandern in alle Richtungen, steilen Hängen, ab und zu ins Wasser gerutschten Bäumen bis ein tiefes, bewaldetes Tal das Reservat einkreist. Aber das ist vom Wasser aus nicht wirklich genau auszumachen.
Błędno nach der Straßenbrücke rechts zwischen den Bäumen des Waldes hat Tische mit Bänken, wenig weiter einen Zeltplatz. Beide Orte ohne Wasser (das gibt es netter Weise beim Forsthaus) und ohne Häuschen (manche Veranstalter statten ihre Gruppe mit mobilen “Tös” aus – Regel ist das zu offensichtlich nicht).
Wenigstens bleibt es einsam und ist so versteckt, dass wir FKK in der Wda schwimmen.
Ich bin unruhig, male mir eine verkürzte Reise mit Regio aus – Sch… auf den ICC… (und wirklich hätte ich die Zeit in meiner Wohnung dringend gebraucht; träumen wir vor oder zurück? Die Hochhauskatastrophen künden sich mit Albtraum an.)
Do. 26.07. Zwangspause am Tor zum Paradies
Ein per pedes-Wandertag zum „Krummen Kreis“ (Krzywe Koło), einen der schönsten Teile der Tucheler Heide. Früher soll dieser Ort schlicht als Paradies/Paradyż bezeichnet worden sein. Eine Runde mit Weitblicken über die Wda, zurück über die Brücke von Błędno, durch trockenen Kiefernwald bis Suchobrzeźnica – natürlich auf der Suche nach Einkehr. Die Hungrigen „ergattern“ (etymologisch: sich etwas Seltenes oder knapp Gewordenes verschaffen) in dem winzigen Dorf 10 Eier von glücklichen Hühnern.
An der Schule eine Gedenktafel für den 1944 ermordeten Dorfschullehrer Józef Schmulta. An der Straße bei Błędno ein schlichtes Denkmal an eine gewonnene Schlacht polnischer und sowjetischer Partisanen gegen die Übermacht deutscher Soldaten (27.10.1944). Die nahen Verwandten von denen, die hier wohnen, haben es erlebt und später erzählt – wieder und immer wieder.
Ich – Jahrgang 1944 – habe Schwierigkeit, die Geschichte einfach nur als historisches Geschehen zu denken, einfach nur Eier hier von einem Hof zu kaufen. Aber: es gibt keinen vernünftigen Grund, es nicht zu tun.
13 heiße km sollen wir insgesamt gelaufen sein. Ich gehe allein am späten Nachmittag noch einmal in das Reservat: Mir fährt der Schreck durch die Glieder: als wäre ich Teile des Weges noch nie gegangen. So ist das allein. Handy hab ich nicht mit. Immer wieder wird ja die Wda zu sehen sein. Die Steinpilze stehen noch naturgeschützt und der Tschaga ist als Heilpilz längst auch hier in Vergessenheit geraten. Vier Kilometer etwa zusätzlich und von der Temperatur her angenehm.
Zweimal schwimmen wir noch mit dem Strom von einem Biwakplatz zum andern – die letzte Etappe steht bevor.
Fr. 27.07. Tleń – das Ende vom “faulen” Fluss und faulen Tagen
Der „faule“ Fluss rappelt sich noch einmal auf zu schneller Strömung. Noch einmal schlängelt die Wda durch abwechslungsreichen Wald. Noch einmal diese Erinnerung an den Krieg, wo mächtige Brückenpfeiler von seiner schrecklichen Sinnlosigkeit künden. Irgendwo dahinter wohl nie mehr aufzufindende Gräber und irgendwo soll eine große Eiche im Wasser liegen, die eventuell umtragen werden muss.
Ich nehme keine echten Hindernisse wahr. Dann bildet die Wda einige große Inseln. Verfolgt von einer fütterungsverwöhnten Entenschar gondelt das Boot in eine immer breiter werdende, lang gestreckte Bucht. Kräftig zu paddeln wage ich nicht – zu flach, zu verkrautet. Wildnis ist hier nicht mehr. Die Dächer von Tleń grüßen.
Ich liege wartend. Über dem schwarzen, schwappenden Wasser schwirren völlig synchron zwei Blauflügel-Prachtlibellen. Als elegante Schleifchen tanzen sie ihr Pas de deux – im spiegelnden Wasser ein vollkommener Vierertakt. Eine dritte stürzt kamikazeartig mitten hindurch – ebenso schnell erfolglos abdrehend. So tief blau gefärbt sind die Weibchen nicht. Kampflustige Männchen? Die Schlagfrequenz gibt einem Foto keine Chance.
Die Zeit verfliegt. Der Kajaktrupp schleicht heran und schwärmt von Fisch und Eis. Abhol- und Ausstiegsmöglichkeiten gibt es drei, nirgends ideal: der Schlamm in der Bucht wirkt leblos schwarz… Am Ufer ein sympathisches, bekanntes Gesicht vom Bootsverleih: zack, die Boote aus dem Wasser, auf den Hänger und weg ist der Mann – bis zum nächsten Jahr?
Große Einkehr oder kleines Eis. Tleń ist Urlaubszentrum und belebt beliebter Ferienort mit bester Versorgung und einem luxuriösen Campingplatz. Ein Regenbogen, ein kurzer Schauer – am Amazonas kann es nicht schwüler sein. Die Feuerwehr rast über die Brücke. Eigenartig: in Griechenland und Schweden brennen die Wälder – in Polen grillt Abend für Abend die Nation an Lagerfeuern.
Ich denke an die Wda zurück, ihre grellgrünen, unterseeischen Wiesen, die Röhrichtgürtel und Kräuterteppiche und wie das satte Grün sich in immer dunkleren Tönen verliert, je weiter die Bäume auf den Hängen zum Himmel wachsen.
Dennoch sind mir auf dieser Reise das wichtigste die wenigen Menschen mit denen ich Kontakt hatte: Vater und Söhnchen, die eine erste Kajakreise zusammen unternehmen, die lustigen Freischneider, mit denen ich mich paddeltechnisch „unterhalte“, die vielen hilfsbereiten Menschen in Lubichowo, sogar jede Begegnung in den kleinen Skleps=Läden – spürbare Herzlichkeit in diesem unendlich weiten Land.
Sa. 28.07. Bydgoszcz – an diesem Tag mental und körperlich ausgelastet!
Bydgoszcz besticht mit restauriertem und ästhetisch überzeugendem, hochmodernem städtebaulichem Ensemble. Nur unsere Besichtigung gerät ab Busbahnhof trotz nahtloser Anschlüsse und frühzeitiger Ankunft zum Hindurch-Rasen schon wieder Richtung leiblicher Notdürfte.
Zu guter Letzt, aller historischen Erkenntnis und antiautoritären Behauptungen zum Trotz jagt ein folgsames Volk hinter dem Führer über die vierspurige Most Uniwersytecki. Wie man‘s braucht. Wie es den Herren in der Dreigroschenoper entgegen geschleudert wird, reagiere ich: “Erst … und dann die Moral”.
Danke für alle Hinweise der hilfsbereiten Polen (der Name Bydgoszcz soll von „bicie gości” oder „bycie gościem“ =‚Gast sein‘ kommen – nomen est omen). Die Busse dürfen auf dieser Strecke kostenfrei benutzt werden, weil es keinen Geh- oder Radweg gibt. In allen Ecken nach der Gruppe am Busbahnhof suchend, bin ich hoffnungslos zu spät und mit 10 Zloty und 30 Euro nicht zahlungskräftig.
Ja, vielleicht haben wir gemeinsame Vorfahren in den Steinkreisen von Odry liegen und die guten Geister schweben nun über mir und dem Grzegorz, der mich quer durch die Stadt zum Bydgoszcz Główna fährt – vielleicht sogar die Zugabfahrtszeiten gen Berlin ahnend (ich weiß nichts und hab alles verpackt). Auf der Rolltreppe gleitet mir unsere Dorit entgegen – ich kann es kaum glauben.
Nein, nicht 5 vor 12, sondern “nach” – der Zug hat Verspätung oder irgend so etwas.
Wróciłem!
1000 dziękuję za jazdę na stację Bydgoszczy
Das Fazit “Wasserwandern auf der Wda”
Schwierigkeitsstufe
Gemäßigtes Paddeln, selbst Untätigkeit bringen auf der Wda schnell vorwärts. Achtsamkeit ist dennoch gefordert: die Situationen wechseln. Es kann wegen der Strömung ein Wagnis werden, Boot, Paddel und sich selbst ans Ufer oder auf eine Sandbank zu retten. Unmittelbar gefährlich wird die Strömung für die massiv im Wasser liegenden Boote nicht. Die offiziell genannten Gefahrenstellen sind zumindest bei gutem Wasserstand übertrieben beschrieben.
Problematisch sind erst kürzlich von Unwettern gestürzte oder altersschwach gefallene Bäume. Wo Kraut und Schilf über unergründlichem Schlamm flattern wird Aussteigen zum Risiko, haltlos zu versinken. Regelmäßig wird die Wda allerdings freigeschnitten: zur rechten Zeit am rechten Ort – eine nette Begegnung!
Wasserqualität
Die extrem saubere Qualität des Wassers nimmt ab mit jeder Siedlung. Das ist zu riechen, wobei der Fluss immer wieder selbsttätig versucht, sich zu erholen. Das „Schwarzwasser“ ist stellenweise eben nicht pur „wässriges“ Moor. Deutlich verschlechtert sich die Wasserqualität bei Czarna Woda – das Boot gleitet unter verrottenden Industrierohren hindurch, linksseitig ragt hinter einem Holzschnitzelberg eine Fabrik in den Himmel.
Immerhin: Abfall im Wasser selbst ist trotz Tourismus nicht zu entdecken. Die Forste im Bereich der Biwakplätze haben diesbezüglich große Probleme. Allein gelassen mit ihren Nordürften reichen dort weder Phantasie noch Wissen der meisten Wasserwanderer für eine naturverträgliche Entsorgung.
Erlebnisqualität
Der vielfach verwendete Begriff „Urwald“ dürfte sich auf die breiten Sumpfwiesen an den flachen Ufern beziehen. Meist säumen Erlen das Ufer bis dahinter der Hang mit hoch aufragenden Kiefern und Wacholder bewachsen ist. Meine Lust durch diese sommertrockene Heide zu wandern tendiert gen Null. Wertvolle Flora (Sonnentau, Knabenkraut, Türkenbund, Akelei etc.) ist natürlich weder vom Boot noch vom Land aus zu entdecken. Die Ufer allerdings geizen nicht mit Wasserminze und Wasserkresse – schmackhafte Bereicherung für einfaches Campingessen, sofern man die angepriesene Naturnähe auskostet und auf ständiges Einkehren verzichtet.
Die Fauna beschränkt sich sichtlich auf klein, hörbar auf groß Geflügeltes und merklich auf Bremsen in Nähe von Weiden und Ortschaften. Dem Biber macht man wohl hier schnell den Garaus – jedenfalls kennen wir das in Brandenburg naturbelassen anders.
Die Landschaftsbilder wiederholen sich. Weniger als 20 km pro Tag langweilen unendlich. Anglermentalität ist gefordert. Die Zeit ist kaum mit anderem als Einkauf und Essen auszufüllen. Wer möchte das? Die Abende am Lagerfeuer (sofern man polnisch/slawisch, nicht allzu deutsch nützlichkeitsdenkend verwurzelt ist und egal wie groß die Brandgefahr in Deutschland eingeschätzt würde) bringen das romantische Gefühl „Zurück zur Natur“.
Stellenweise ist in der Wda zu baden (das jedoch unbedingt verschämt bekleidet). Angeleint und unter Aufsicht müssen Kinder in jedem Fall sein. Die Strömung reißt auch Erwachsene mit sich und Ausstiege fehlen dann.
Fünf Tage im Kajak für den Abschnitt Borsk – Tleń, dann sollte es eine wundervolle Naturerfahrung werden!
Dieses Mal viel zu viele 10 Tage für etwas über 100 km Fluss ohne See, aber unschlagbar und mit Dankbarkeit für rund 150 Euro mit allem Drumunddran. Funktioniert aber nur, weil die Organisation vom Wandersportverein und ausgefuchstem Wanderleiter mit nicht mehr als einer Mini-Aufwandsentschädigung abgegolten wird.
Der diesjährige Höhepunkt vom 20.05. – 28.05.2017
Mit dem Kulturzug nach Wroclaw und weiter nach Duszniki Zdrój (Bad Reinerz)
Eine Wanderreise nach Polen mit Eckhard Knauer, Wandersportverein Rotation Berlin
Szczeliniec Wielki (Die Große Heuscheuer)
Karłów (Karlsberg) – Wąwóz Piekełko (Höllenschlucht) – PTTK-Hütte auf der Großen Heuscheuer – Felsenstadt
Kudowa Zdrój – Kapellenberg – Kaplica Csaszek in Czermna (Schädelkapelle in Tscherbeney) – Denkmal der drei Kulturen – Pstrążna (Straußeney) – Blędne Skały (Wilde Löcher) – Rozdroże pod Lelkową – Kudowa Górna – Kudowa Zdrój
Góry Orlickie / Orlické hory (Adlergebirge) – Grenzgang
Duszniki Zdrój, Kurpark – Kozia Hala (Ziegenwiese, 743 m) – Autostrada Sudecka (Sudetenstr.) – Grenzübergang nach Tschechien – Kopa pod Sołtysą (896 m) – Orlica / Vrchmezí (Hohe Mense, 1084 m) – Pramen Bělé odbačka – Polomský Kopec (1050 m) – Šerlich (1026 m) – Masarykova chata (1019 m) – Zieleniec (Grunwald)
So nah an Geschichten aus der Kindheit…
Duszniki Zdrój – Złotno (Goldbach) – Skała Józefa – Friedrichsgrund (Batorów), zur Erinnerung an ausgelöschte Vergangenheit
Und weiter auf Wegen, die mir wie bekannt vorkommen über Rogazc (684 m), vorbei an den steinernen Pilzen (Skalne Grzyby), vorbei an der Kapelle St. Anna und hinunter an den 12 Kreuzwegstationen bis zum Wallfahrtsort Wambierzyce (Albendorf), dem „Schlesischen Jerusalem“ mit dem Kalvarienberg.
Durch die Góry Bystrzyckie (Habelschwerdter Berge)
Duszniki Zdrój – Wolarz (852 m) – Zajęcza Ścieżka (Hasenstieg) – Piekielny Labirynt (Höllenlabyrinth) – Polanica Zdrój (Bad Altheide), Kurpark
Die Welt in der wir nicht mehr leben: in Beziehung zur Natur. Oder ausgetrieben aus dem Paradies? Oder unser eigener, gottgleicher Lebensstil? Der Mittelweg im Leben scheint so steinig und steil wie der Aufstieg zum Berg.
Duszniki Zdrój – Łężyce (Friedersdorf) – Skały Puchacza (Eulenfelsen) – Kopa Śmierci (830 m) – Narożnik (851 m) – Lisia Przełęcz (Fuchspass) – Fort Karola – Białe Skały (Weiße Felsen) – Karłów (Karlsberg)
Kłodzko (Glatz), ober- und unterirdisch
Glatzer Ring mit Rathaus, Pestsäule, Löwenbrunnen, unterirdisches Labyrinth,
Festung, ehem. Jesuitenkolleg (Heimatmuseum), Kirche Mariä Himmelfahrt (prächtigste Kirche der Grafschaft), Minoritenkirche zur Rosenkranzmutter und Franziskanerkloster, Gotische Brückentorbrücke („Kleine Karlsbrücke“)
Schuhe können wie die winzigen chinesischen Damenschuhe kleine Kunstwerke sein. Die entsprechenden Trippelschritte und die notwendige Anspannung der Beckenmuskulatur galten als stimulierend für die Liebeslust des Mannes. Aschenputtels Füßchen hatten eine ähnlich erotische Wirkung.
Kein Wunder, wenn heutzutage beim Wandern die Hoffnung auf den Prinzen zerbricht. Angesichts der zweckorientierten Wanderschuhe kommt einfach kein abseitiger Einfall. Immerhin gab es diesbezüglich meinerseits in sehr jungen Jahren zierlich fast unbeschuht – oder besser gesagt unbedarft – Versuche: 1961 über den Kamm der Tatra mit Wanda und Krzysztof, unserem Wanderleiter. Es war das erste, unvergessliche Mal, dass ich richtige Berge mit Schnee und Enzian gesehen habe. Etliche Jahre später ist mir das Besteigen des Chopok, Slowakei, notgedrungen die Pfennigabsatzschuhe in der Hand und barfuß auch nicht schwer gefallen.
Heutzutage wäre umgekehrt das Tragen von steigeisenfesten Bergstiefeln auf brandenburgischen Sandwegen zu hinterfragen. Nicht nur, dass das brettartige Gehverhalten in die Ohren der Mitwanderer plautzt, für Skelett und Zehen ist das schädlich. Die Urgeschichte des Schuhs wird entsprechend auch an den Knochen abgelesen, denn Schuhwerk gehört bekanntlich zu den Objekten der Kultur, die aufgrund ihres Materials nur unter besonderen Umständen die Zeiten überdauern. Knochen bleiben verformt.
Viele tun so, als wären Schuhe das Wichtigste beim Wandern. Zum wahren Glück – zumindest in Brandenburg – brauchen wir jedoch oft nichts weiter als nackte Füße: eine höchst soziale Form des Wanderns und im Sinne von radikalen Tierschützern. Genau wie die indischen Jains, Asketen, die nur barfuß gehen, wird nicht das kleinste Tier verletzt. Ein Fußsack aus Fell, die Haarseite nach innen (Mokassins) oder die Stiefel mit Heu ausgestopft wären eine Kältevariante.
Ein Outdoorgeschäft ist dann natürlich nicht zu machen. Dafür wurden die Barfußschuhe entwickelt. Ich trage alles wie es kommt bzw. vorhanden ist. Und wenn es strapaziös wird: die leichten Keen.